In der Poesie-Ecke von Burgdorfernet sind ab 2000 erschienen:


Linde - Tilia

 

Januar 2000

Betracht, o Mensch, die Ewigkeit
Ewigkeit! O Ewigkeit!
Wie lang bist du, o Ewigkeit!
Doch eilt zu dir der Menschen Zeit
Gleich wie das kühne Pferd zum Streit,
Nach Haus der Bot, das Schiff zum Port,
Der schnelle Pfeil vom Bogen fort.
Betracht, o Mensch, die Ewigkeit!

O Ewigkeit, o Ewigkeit!
Wie lang bist du, o Ewigkeit!
Gleich wie an einem Kugel-Rund
Kein Anfang und kein End ist kund,
So auch, o Ewigkeit, an dir
Blickt weder Ein- noch Ausgang für.
Betracht, o Mensch, die Ewigkeit!

O Ewigkeit, o Ewigkeit!
Wie lang bist du, o Ewigkeit!
Du bist ein Ring unendlich weit!
Dein Mittelpunkt heisst «allezeit»,
Dein runder Umkreis «niemal» heisst,
Dieweil er nie kein Ende weist.
Betracht, o Mensch, die Ewigkeit!

Kölnisches Gesangbüchlein


Farne

 

 

 

 

Februar 2000

Manche freilich ...
Manche freilich müssen drunten sterben,
Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen.
Andre wohnen bei dem Steuer droben,
Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.

Manche liegen immer mit schweren Gliedern
Bei den Wurzeln des verworrenen Lebens.
Andern sind die Stühle gerichtet
Bei den Sibyllen, den Königinnen,
Und da sitzen sie wie zu Hause,
Leichten Hauptes und leichter Hände.

Doch ein Schatten fällt von jenen Leben
In die anderen Leben hinüber,
Und die leichten sind an die schweren
Wie an Luft und Erde gebunden:

Ganz vergessener Völker Müdigkeiten
Kann ich nicht abtun von meinen Lidern,
Noch weghalten von der erschrockenen Seele
Stummes Niederfallen ferner Sterne.

Viele Geschicke weben neben dem meinen,
Durcheinander spielt sie alle das Dasein,
Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens
Schlanke Flamme oder schmale Leier.

Hugo von Hofmannsthal

Hugo von Hofmannsthal
geboren 1874 in Wien, gestorben 1929 in Rodaun bei Wien, studierte Jura und romanische Philologie. Er schrieb Texte zu den grossen Opern von Richard Strauss («Elektra», «Der Rosenkavalier», «Ariadne auf Naxos», «Arabella» etc.). Mysterienspiel «Jedermann», Komödien: «Der Schwierige», «Der Unbestechliche».


Buche - Fagus

 

März 2000

Abend

Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust; und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt;

und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt –

und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so dass es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.

Rainer Maria Rilke

 

Rainer Maria Rilke
geboren 1875 in Prag, 
gestorben 1926 in Val-Mont bei Montreux, 
begraben im Friedhof von Raron VS.

 


Primel -


April 2000

Aus «Faust II»

Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig,
Ätherische Dämmerung milde zu begrüssen;
Du Erde warst auch diese Nacht beständig
Und atmest neu erquickt zu meinen Füssen,
Beginnest schon mit Lust mich zu umgeben,
Du regst und rührst ein kräftiges Beschliessen,
Zum höchsten Dasein immerfort zu streben. -
In Dämmerschein liegt schon die Welt erschlossen,
Der Wald ertönt von tausendstimmigem Leben
Tal aus, Tal ein ist Nebelstreif ergossen,
Doch senkt sich Himmelsklarheit in die Tiefen,
Und Zweig und Äste, frisch erquickt, entsprossen
Dem duftgen Abgrund wo versenkt sie schliefen;
Auch Farb' an Farbe klärt sich los vom Grunde,
Wo Blum und Blatt von Zitterperle triefen,
Ein Paradies wird um mich her die Runde.

Johann Wolfgang von Goethe

Johann Wolfgang von Goethe
geboren 28.8.1749 
in Frankfurt am Main
gestorben 22.3.1832 in Weimar


Wässermatte bei Wynau

Mai / Juni 2000

Du liebe schöne Gotteswelt,
Wie hast du mir das Herz erhellt!
So schaurig war's noch kaum zuvor,
Da taucht ein blauer Schein empor;
Der Rasen hauchet süssen Duft,
Ein Vogel singt aus hoher Luft:

Aus der Novelle «Ein stiller Musikant» 
von Theodor Storm

 

Theodor Storm
geboren 1817 in Husum,
gestorben 1888 in Hademarschen.


Wilde Malve - Malva sylvestris

 

Juli / August 2000

Aus «Die Metamorphose der Pflanzen»
Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze.
Stufenweise geführt, bildet zu Blüten und Frucht.
Aus dem Samen entwickelt sie sich, sobald ihn der Erde
Stille befruchtender Schoss hold in das Leben entlässt,
Und dem Reize des Lichts, des heiligen, ewig bewegten,
Gleich den zärtesten Bau keimender Blätter empfiehlt.
Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes Vorbild
Lag, verschlossen in sich, unter der Hülle gebeugt,
Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos;
Trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt,
Quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend,
Und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht.
Aber einfach bleibt die Gestalt der ersten Erscheinung:
Und so bezeichnet sich auch unter den Pflanzen das Kind.
Gleich darauf ein folgender Trieb, sich erhebend, erneuet,
Knoten auf Knoten getürmt, immer das erste Gebild.
Zwar nicht immer das gleiche; denn mannigfaltig erzeugt sich,
Ausgebildet, du siehst's, immer das folgende Blatt,
Ausgedehnter, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile,
Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ.
Und so erreicht es zuerst die höchst bestimmte Vollendung,
Die bei manchem Geschlecht dich zum Erstaunen bewegt.
Viel gerippt und gezackt, auf mastig strotzender Fläche,
Scheinet die Fülle des Triebs frei und unendlich zu sein.
Doch hier hält die Natur, mit mächtigen Händen, die Bildung
An und lenket sie sanft in das Vollkommnere hin.
Mässiger leitet sie nun den Saft, verengt die Gefässe,
Und gleich zeigt die Gestalt zärtere Wirkungen an.
Stille zieht sich der Trieb der strebenden Ränder zurücke,
Und die Rippe des Stiels bildet sich völliger aus.
Blattlos aber und schnell erhebt sich der zärtere Stengel.
Und ein Wundergebild zieht den Betrachtenden an.
Rings im Kreise stellet sich nun, gezählet und ohne
Zahl, das kleinere Blatt neben dem ähnlichen hin.
Um die Achse gedrängt, entscheidet der bergende Kelch sich,
Der zur höchsten Gestalt farbige Kronen entlässt.
Also prangt die Natur in hoher, voller Erscheinung,
Und sie zeiget, gereiht, Glieder an Glieder gestuft.
Immer staunst du aufs neue, sobald sich am Stengel die Blume
Über dem schlanken Gerüst wechselnder Blätter bewegt.

Johann Wolfgang von Goethe

Johann Wolfgang von Goethe
geboren 28.8.1749 
in Frankfurt am Main
gestorben 22.3.1832 in Weimar


Walnuss - Juglans regia

 

September/Oktober 2000

September-Ode
(aus: Die weltlichen Gedichte, Berlin 1940)

Mir ist noch immer, wie mir vorzeiten war,
Als durch den Garten, unter den hangenden,
Fruchtüberladnen Apfelbäumen
Mitten ins Schattengewirr der Vollmond

Aufs Rasenfeld verlorene Zeichen schrieb,
Die sich verschoben, wenn aus dem knorrichten,
Umfinsterten Genist ein Apfel
Fiel und die raschelnden Zweige wankten.

Der Nussbaum stand vor breiterer Dämmerung
Und barg in Blätterbuchten die reife Tracht,
Da schon ins Gras vereinzelt schwarzer,
bitterer, beizender Abfall hinlag

Und modrig barst, und aus dem zerschlissnen Balg
Die Kerngehäuse kollerten. - Apfelruch
Und brauner Würzgeschmack der Walnuss
Lief mit dem Atem der Spätjahrsrose

Durch schalen Heuduft sterbender Sommerzeit
Und schräger Mond, der drüben im schlummernden,
Im Strom den schmalen Spiegelstreifen
Zog, den die Schleier des Schilfrohrs säumten.

September war's und heitere Nacht und warm,
Warm wie die Nacht hier droben und hell, wie hier
Der volle Mond durch Apfelbäume
Blickt und am Grunde die Schatten sprenkelt.

Rudolf Alexander Schröder

Rudolf Alexander Schröder
geboren 1878 in Bremen, 
gestorben 1962 in Bad Wiessee


Bergulme - Ulmus scabra

Die Ulme galt als Symbol von Tod und Trauer

November/Dezember 2000

Treibjagd 

Spätsommer, dieses Gespür
von Abschied voraus.
Hinter dir fällt schon die Tür
ins beschattete Haus.

Wind, der die Weite durchmisst:
deine Wege von morgen.
Was du verloren hast, ist
aufs neue zu borgen.

Bis der Herbststurm erwacht,
magst du noch draussen zelten,
die Schüsse während der Nacht
brauchen nicht dir zu gelten.

Fuchsfallen, im Acker getarnt,
findest du blind.
Erst wenn der Häher dich warnt,
weisst du: die Treibjagd beginnt.

Dagmar Nick

Dagmar Nick
wurde 1926 in Breslau geboren. In München studierte sie Graphologie und Psychologie. Ihr erstes Gedicht erschien 1945 in der von Erich Kästner herausgegebenen «Neuen Zeitung» in München. 
1947 veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband "Märtyrer". Es folgten weitere Sammlungen, Essays und Reisebeschreibungen. 


Efeu - Hédera hélix 

Januar/Februar 2001

Aus «Sonette an Orpheus» 

XXII
Wir sind die Treibenden.
Aber den Schritt der Zeit,
nehmt ihn als Kleinigkeit
im immer Bleibenden.

Alles das Eilende
wird schon vorüber sein;
denn das Verweilende
erst weiht uns ein.

Knaben, o werft den Mut
nicht in die Schnelligkeit,
nicht in den Flugversuch.

Alles ist ausgeruht:
Dunkel und Helligkeit,
Blume und Buch.

Rainer Maria Rilke

Rainer Maria Rilke
geboren am 4. Dezember 1975 in Prag, gestorben am 29. Dezember 1926 in Valmont bei Montreux. Begraben auf dem Friedhof von Raron VS. Die «Sonette an Orpheus» erschienen 1923.


Stieleiche – Quercus robur 

März/April 2001

Die Eichbäume
 
Aus den Gärten komm' ich zu euch, ihr Söhne des Berges!
Aus den Gärten, da lebt die Natur geduldig und häuslich,
Pflegend und wieder gepflegt mit dem fleissigen Menschen zusammen.
Aber ihr, ihr Herrlichen! steht, wie ein Volk von Titanen
In der zahmeren Welt und gehört nur euch und dem Himmel,
Der euch nährt' und erzog und der Erde, die euch geboren.
Keiner von euch ist noch in die Schule des Menschen gegangen,
Und ihr drängt euch fröhlich und frei, aus der kräftigen Wurzel,
Unter einander herauf und ergreift, wie der Adler die Beute,
Mit gewaltigem Arme den Raum, und gegen die Wolken
Ist euch heiter und gross die sonnige Krone gerichtet.
Eine Welt ist jeder von euch, wie die Sterne des Himmels
Lebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen.
Könnt' ich die Knechtschaft nur erdulden, ich neidete nimmer
Diesen Wald und schmiegte mich gern ans gesellige Leben.
Fesselte nur nicht mehr ans gesellige Leben das Herz mich,
Das von Liebe nicht lässt, wie gern würd' ich unter euch wohnen.

Friedrich Hölderlin

 

Friedrich Hölderlin
Dichter, geb. 1770 in Lauffen am Neckar,
gestorben 1843 in Tübingen.


Wiesenblumen 

Mai/Juni/Juli 2001

Chanson de Barberine
 

Beau chevalier qui partez pour la guerre,
Qu'allez-vous faire
Si loin d'ici?
Voyez-vous pas que la nuit est profonde,
Et que le monde
N'est que souci?
Vous qui croyez qu'une amour délaissée
De la pensée
S'enfuit ainsi.
Hélas! hélas! chercheurs de renommée,
Votre fumée
S'envole aussi.
Beau chevalier qui partez pour la guerre,
Qu'allez-vous faire
Si loin de nous?
J'en vais pleurer, moi qui me laissais dire
Que mon sourire
Etait si doux.

Alfred de Musset

Alfred de Musset
französischer Dichter, 
geb. 1810 in Paris, 
war einer der bedeutendsten Vertreter der französischen Romantik. Er starb 1857 in Paris.


Bechermalve – Lavatera trimestris

August/September 2001

Aus «Faust II», erster Akt
 
So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!
Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend,
Ihn schau ich an mit wachsendem Entzücken.
Von Sturz zu Sturzen wälzt er jetzt in tausend
Dann abertausend Strömen sich ergiessend,
Hoch in die Lüfte Schaum an Schäume sausend.
Allein wie herrlich diesem Sturm entspriessend
Wölbt sich des bunten Bogens Wechsel-Dauer
Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfliessend,
Umher verbreitend duftig kühle Schauer.
D e r spiegelt ab das menschliche Bestreben.
Ihm sinne nach und du begreifst genauer:
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.

Johann Wolfgang von Goethe

Johann Wolfgang 
von Goethe

geboren 28.8.1749
in Frankfurt am Main
gestorben 22.3.1832
in Weimar


Weinrebe 

Oktober/November 2001

Unter dem Weinstock

Unter dem Weinstock im Traubenlicht
reift dein letztes Gesicht.
Die Nacht muss das Blatt wenden.

Die Nacht muss das Blatt wenden,
wenn die Schale zerspringt
und aus dem Fruchtfleisch die Sonne dringt.

Die Nacht muss das Blatt wenden,
wenn dein erstes Gesicht
steigt in dein Trugbild, gedämmt vom Licht.

Unter dem Weinstock im Traubenstrahl
prägt der Rausch dir ein Mal –
Die Nacht muss das Blatt wenden!

Ingeborg Bachmann

 

Ingeborg Bachmann
geboren 1926 in Klagenfurt, gestorben 1973 in Rom.
Gedichte, Erzählungen, Hörspiele, Essays.



Dezember 2001/Januar 2002

In der Frühe

Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir,
dort gehet schon der Tag herfür
an meinem Kammerfenster.
Es wühlet mein verstörter Sinn
noch zwischen Zweifeln her und hin
und schaffet Nachtgespenster.
– Ängste, quäle
dich nicht länger, meine Seele!
Freu' dich! schon sind da und dorten
Morgenglocken wach geworden.

Eduard Mörike

 

Eduard Mörike
geboren 1804 in Ludwigsburg, war von 1834 bis 1843 Pfarrer in Cleversulzbach.
1844 zog er nach Mergentheim und lehrte von 1851 bis 1866 Literatur am Stuttgarter Katharinen-Stift.
Gestorben 1875 in Stuttgart.

Februar/März 2002

Unzugänglich schien der Gipfel;
Nun begehn wir ihn so leicht.
Fern verdämmern erste Wege,
Neue Himmel sind erreicht.

Urgebirg und offne Länder
Schweben weit, in Eins verspielt.
Städte, die wir nachts durchzogen,
Sind ein einfach-lichtes Bild.

Helle Wolke streift herüber;
Uns umweht ihr Schattenlauf.
Grosse blaue Falter schlagen
Sich wie Bücher vor uns auf.

Hans Carossa
Hans Carossa
Arzt und Schriftsteller, geboren 1878 in Tölz, gestorben 1956 in Rittsteig bei Passau.
Gedichte, Romane, autobiografische Werke. 


Tulpe - Tulipa

April/Mai 2002

Aus einem April

Wieder duftet der Wald.
Es heben die schwebenden Lerchen
mit sich den Himmel empor, 
der unseren Schultern schwer war;
zwar sah man noch durch die Äste 
den Tag, wie er leer war, –
aber nach langen, regnenden Nachmittagen
kommen die goldübersonnten
neueren Stunden,
vor denen flüchtend an fernen Häuserfronten
alle die wunden
Fenster furchtsam mit Flügeln schlagen.
Dann wird es still. Sogar der Regen geht leiser
über der Steine ruhig dunkelnden Glanz.
Alle Geräusche ducken sich ganz
in die glänzenden Knospen der Reiser.

Rainer Maria Rilke

 

Rainer Maria Rilke
geboren 1875 in Prag, gestorben 1926 in Val-Mont bei Montreux, 
begraben im Friedhof von Raron VS.


Rose

Juni/Juli 2002

Mittagsruh

Über Bergen, Fluss und Talen,
Stiller Lust und tiefen Qualen
Webet heimlich, schillert, Strahlen!
Sinnend ruht des Tags Gewühle
In der dunkelblauen Schwüle,
Und die ewigen Gefühle,
Was dir selber unbewusst,
Treten heimlich, gross und leise
Aus der Wirrung fester Gleise,
Aus der unbewachten Brust,
In die stillen, weiten Kreise.

Joseph von Eichendorff

Joseph von Eichendorff
Dichter der Romantik, geboren 1788 auf Schloss Lubowitz, Oberschlesien,
gestorben 1857 in Neisse, Oberschlesien.


Phlox

 

August / September 2002

Dover Beach

The sea is calm tonight.
The tide is full, the moon lies fair
Upon the straits—on the French coast the light
Gleams and is gone; the cliffs of England stand,
Glimmering and vast, out in the tranquil bay.
Come to the window, sweet is the night air!
Only, from the long line of spray
Where the sea meets the moon-blanched land,
Listen! you hear the grating roar
Of pebbles which the waves draw back, and fling,
At their return, up the high strand,
Begin, and cease, and then again begin,
With tremulous cadence slow, and bring
The eternal note of sadness in.

Sophocles long ago
Heard it on the Aegean, and it brought
Into his mind the turbid ebb and flow
Of human misery; we
Find also in the sound a thought,
Hearing it by this distant northern sea.

The Sea of Faith
Was once, too, at the full, and round earth's shore
Lay like the folds of a bright girdle furled.
But now I only hear
Its melancholy, long, withdrawing roar,
Retreating, to the breath
Of the night wind, down the vast edges drear
And naked shingles of the world.

Ah, love, let us be true
To one another! for the world, which seems
To lie before us like a land of dreams,
So various, so beautiful, so new,
Hath really neither joy, nor love, nor light,
Nor certitude, nor peace, nor help for pain;
And we are here as on a darkling plain
Swept with confused alarms of struggle and flight,
Where ignorant armies clash by night.

Matthew Arnold

Matthew Arnold
Geboren 1822 in Laleham-on-Thames, gestorben 1888 in Liverpool. Literatur-, Kultur- und Sozialkritiker, erster «Professor for Poetry» in Oxford.


Dahlie

 

Oktober/November 2002

Kehr ein bei mir!

Du bist die Ruh,
Der Friede mild,
Die Sehnsucht du,
Und was sie stillt.
Ich weihe dir
Voll Lust und Schmerz
Zur Wohnung hier
Mein Aug und Herz.
Kehr ein bei mir,
Und schliesse du
Still hinter dir
Die Pforten zu.
Treib andern Schmerz
Aus dieser Brust!
Voll sei dies Herz
Von deiner Lust.
Dies Augenzelt
Von deinem Glanz
Allein erhellt,
O füll es ganz.

Friedrich Rückert

Friedrich Rückert
Geboren 16.5.1788 in Schweinfurt, gestorben 31.1.1866 in Neuses bei Coburg. 
Seit 1826 Professor für orientalische Sprachen in Erlangen, dann in Berlin. 
«Deutsche Gedichte», «Kindertotenlieder» (vertont von G. Mahler).


Englische Rose «Wife of Bath»

Dezember 2002/Januar 2003

Unter der Wurzel der Distel

Unter der Wurzel der Distel
Wohnt nun die Sprache,
Nicht abgewandt,
Im steinigen Grund.
Ein Riegel fürs Feuer
War sie immer.

Leg deine Hand
Auf diesen Felsen.
Es zittert das starre
Geäst der Metalle.
Ausgeräumt ist aber
Der Sommer,
Verstrichen die Frist.

Es stellen
Die Schatten im Unterholz
Ihr Fangnetz auf.

Peter Huchel

Peter Huchel
Geboren 3.4.1903 in Berlin-Lichterfelde, gestorben 30.4.1981 in Staufen im Breisgau. 
Schriftsteller, Chefdramaturg, Sendeleiter beim Ostberliner Rundfunk, Chefredakteur
der Zeitschrift «Sinn und Form», emigrierte 1971.


Kirschbaumallee

Februar / März 2003

Trauerspiel

Der Tiger schreitet seine Tagesreise
Viel Meilen fort.
Zuweilen gegen Abend nimmt er Speise
Am fremden Ort.

Die Eisenstäbe: alles, was dahinter
Vergeht und säumt,
Ist Schrei und Stich und frostig fahler     Winter
Und nur geträumt.


Er gleitet heim: und musste längst verlernen,
Wie Heimat sprach.
Der Käfig stutzt und wittert sein Entfernen
Und hetzt ihm nach.

Er flackert heller aus dem blinden Schmerze,
Den er nicht nennt,
Nur eine goldne russgestreifte Kerze,
Die glitzernd sich zu Tode brennt.

Gertrud Kolmar

 

Gertrud Kolmar
Schriftstellerin, geboren in Berlin am 10.12.1894, gestorben in Auschwitz 1943, schrieb visionäre Naturlyrik und Gedichte über historische Themen in bildhafter, dunkler
Sprache.


Winterschneeball - Viburnum

April / Mai 2003

Die frühen Gräber

Willkommen, o silberner Mond,
  Schöner, stiller Gefährt der Nacht!
    Du entfliehst? Eile nicht, bleib, Gedankenfreund!
      Sehet, er bleibt, das Gewölk wallte nur hin.

Des Maies Erwachen ist nur
  Schöner noch, wie die Sommernacht,
    Wenn ihm Tau, hell wie Licht, aus der Locke träuft,
       Und zu dem Hügel herauf rötlich er kömmt.

Ihr Edleren, ach es bewächst
  Eure Male schon ernstes Moos!
    O wie war glücklich ich, als ich noch mit euch
      Sahe sich röten den Tag, schimmern die Nacht.

Friedrich Gottlieb Klopstock

Friedrich Gottlieb Klopstock
Dichter, geboren 1724 in Quedlinburg, gestorben 1803 in Hamburg, studierte in Leipzig und Jena Theologie, wurde 1748 Hauslehrer.
1750 folgte er einer Einladung von J.J. Bodmer nach Zürich. 1751 wurde er vom dänischen König nach Kopenhagen berufen. 1770 liess er sich in Hamburg nieder.


Stockrose – Alcea rosea

 

August 2003

Im Grase

Süsse Ruh, süsser Taumel im Gras,
Von des Krautes Arom’ umhaucht,
Tiefe Flut, tief, tief trunkne Flut,
Wenn die Wolke am Azure verraucht,
Wenn aufs müde schwimmende Haupt
Süsses Lachen gaukelt herab,
Liebe Stimme säuselt und träuft
Wie die Lindenblüt’ auf ein Grab.

Wenn im Busen die Toten dann,
Jede Leiche sich streckt und regt,
Leise, leise den Odem zieht,
Die geschlossne Wimper bewegt,
Tote Lieb’, tote Lust, tote Zeit,
All die Schätze, im Schutt verwühlt,
Sich berühren mit schüchternem Klang
Gleich den Glöckchen, vom Winde umspielt.

Stunden, flücht’ger ihr als der Kuss
Eines Strahls auf den trauernden See,
Als des ziehnden Vogels Lied,
Das mir niederperlt aus der Höh’,
Als des schillernden Käfers Blitz,
Wenn den Sonnenpfad er durcheilt,
Als der flücht’ge Druck einer Hand,
Die zum letzten Male verweilt.

Dennoch, Himmel, immer mir nur
Dieses eine nur: für das Lied
Jedes freien Vogels im Blau
Eine Seele, die mit ihm zieht,
Nur für jeden kärglichen Strahl
Meinen farbig schillernden Saum,
Jeder warmen Hand meinen Druck,
Und für jedes Glück einen Traum.

Annette von Droste-Hülshoff (1844)

Annette von Droste-Hülshoff
geboren 1797 auf Schloss Hülshoff bei Münster in Westfalen, gestorben 1848 auf der Meersburg am Bodensee. Heidebilder, Versepen, Balladen, Gedichte, Novelle «Die Judenbuche».


Orchidee 

Januar 2004

Wieder wartet

Auf eine Kinderzeichnung

Der Mond geht ohne Fuss
und singt
weil die Wolken
hinter den Gebirgen Farben mischen.

Und die Pfirsichbäume
trauern in ernsten Mänteln
vorm Regen.

Wieder wartet der Mond
in den Pfirsichen
auf den Gesang der Kerne.

Peter Härtling *1933

 

Peter Härtling
geboren 1933 in Chemnitz, Schriftsteller, Romane, Lyrik, Kinderbücher. 
1967–73 literarischer Leiter des S. Fischer Verlags. 1980: Zürcher Kinderbuchpreis «La vache qui lit» für Ben liebt Anna und Sofie macht Geschichten. 1994: Verleihung des Titels eines Professors durch das Land Baden-Württemberg. 1995: Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes. 2000: Eichendorff-Preis; 2001: Dr. h.c. der Universität Gießen; Poetik-Dozentur der Universität Dresden; Sonderpreis des Jugendbuchpreises für das kinderliterarische Gesamtwerk. 


Aprilglocken – Narcissus - Daffodils

 

April 2004

Endymion

Book I, 1–19

A thing of beauty is a joy for ever:
Its loveliness increases; it will never
Pass into nothingness; but still we keep
A bower quiet for us, and a sleep
Full of sweat dreams, and health, and quiet breathing.
Therefore, on every morrow, are we wreathing
A flowery band to bind us to the earth,
Spite of despondence, of the inhuman dearth
Of noble natures, of the gloomy days,
Of all the unhealthy and o’er-darkened ways
Made for our searching: yes, in spite of all,
Some shape of beauty moves away the pall
From our dark spirits. Such the sun, the moon,
Trees old, and young sprouting a shady boon
For simple sheep; and such are daffodils
With the green world they live in; and clear rills
That for themselves a cooling covert make
‘Gainst the hot season; the mid-forest brake,
Rich with a sprinkling of fair musk-rose blooms.

John Keats

 

John Keats
geboren 1795 in London, gestorben 1821 in Rom. Einer der bedeutendsten Lyriker der englischen Romantik.
Verserzählungen «Endymion», «Hyperion», Oden, Balladen.
 


Brennnessel – Urtica dioeca L.

Juli 2004

Como recojo en lo último del día

Como recojo en lo último del día
a fuerza de honda, a fuerza de meneo,
en una piedra el sol que ya no veo,
porque ya está su flor en agonía,

así recoge dentro el alma mía
por esta soledad de mi deseo
siempre en el pasto y nunca en el sesteo,
lo que le queda siempre a mi alegría:

una pena final como la tierra,
como la flor del haba blanquioscura,
como la ortiga hostil desazonada,

indomable y cruel como la sierra,
como el agua de invierno terca y pur
a,
recóndita y eterna como nada.

Miguel Hernandez

 

Miguel Hernandez
geboren 1910 in Orihuela, gestorben 1942 in Alicante. Neoklassizistische Lyrik.


Roter Sonnenhut - Echinacea purpurea

August / September 2004

Ägäis

Im Marmorlicht der Kykladen
mein Herz, ein Kristall.
Ich werfe es hoch,
einem Taubenschwarm zu,
sehe, wie es sich langsam
von mir entfernt,
ein Lichtkorn unter der
Perlmutterschwinge des Winds,
sehe ihm nach,
noch einmal ein letztes
Aufblitzen, schmerzlos.

Dagmar Nick

 

Dagmar Nick
geboren 1926 in Breslau. In München studierte sie Graphologie und Psychologie. Ihr erstes Gedicht erschien 1945 in der von Erich Kästner herausgegebenen «Neuen Zeitung» in München. 1947 veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband «Märtyrer». Es folgten weitere Sammlungen, Essays und Reisebeschreibungen. 


Christrose - Helleborus orientalis

Januar / Februar 2005

Auf eine Christblume

Im Winterboden schläft, ein Blumenkeim,
Der Schmetterling, der einst um Busch und Hügel
In Frühlingsnächten wiegt den samtnen Flügel;
Nie soll er kosten deinen Honigseim.

Wer aber weiss, ob nicht sein zarter Geist,
Wenn jede Zier des Sommers hingesunken,
Dereinst, von deinem leisen Dufte trunken,
Mir unsichtbar, dich blühende umkreist?

Eduard Mörike

Eduard Mörike
geboren 1804 in Ludwigsburg, war von 1834 bis 1843 Pfarrer in Cleversulzbach.1844 zog er nach Mergentheim und lehrte von 1851 bis 1866 Literatur am Stuttgarter Katharinen-Stift. Gestorben 1875 in Stuttgart. Werke: Gedichte, Novellen, darunter «Mozart auf der Reise nach Prag», Künstlerroman «Maler Nolten», Märchen «Das Stuttgarter Hutzelmännlein».


Lindenallee

 

März 2005

Vorfrühling

Es läuft der Frühlingswind
Durch kahle Alleen,
Seltsame Dinge sind
In seinem Wehn.

Er hat sich gewiegt,
Wo Weinen war,
Und hat sich geschmiegt
In zerrüttetes Haar.

Er schüttelte nieder
Akazienblüten
Und kühlte die Glieder,
Die atmend glühten.

Lippen im Lachen
Hat er berührt,
Die weichen und wachen
Fluren durchspürt.

Er glitt durch die Flöte
Als schluchzender Schrei,
An dämmernder Röte
Flog er vorbei.

Er flog mit Schweigen
Durch flüsternde Zimmer
Und löschte im Neigen
Der Ampel Schimmer.

Es läuft der Frühlingswind
Durch kahle Alleen,
Seltsame Dinge sind
In seinem Wehn.

Durch die glatten
Kahlen Alleen
Treibt sein Wehn
Blasse Schatten.

Und den Duft,
Den er gebracht,
Von wo er gekommen
Seit gestern nacht.

Hugo von Hofmannsthal 1874–1929

Hugo von Hofmannsthal
geboren 1874 in Wien, gestorben 1929 in Rodaun bei Wien, studierte Jura und romanische Philologie. Er schrieb Texte zu den grossen Opern von Richard Strauss («Elektra», «Der Rosenkavalier», «Ariadne auf Naxos», «Arabella» etc.). Mysterienspiel «Jedermann», Komödien: «Der Schwierige», «Der Unbestechliche».


Lilie - Lilium

Juni 2005

Der Pilgrim

Noch in meines Lebens Lenze
   War ich und ich wandert' aus,
Und der Jugend frohe Tänze
   Liess ich in des Vaters Haus.

All mein Erbteil, meine Habe
   Warf ich fröhlich glaubend hin,
Und am leichten Pilgerstabe
   Zog ich fort mit Kindersinn.

Denn mich trieb ein mächtig Hoffen
   Und ein dunkles Glaubenswort,
Wandle riefs, der Weg ist offen,
   Immer nach dem Aufgang fort.

Bis zu einer goldnen Pforten
   Du gelangst, da gehst du ein,
Denn das Irdische wird dorten
   Himmlisch unvergänglich sein.

Abend wards und wurde Morgen,
   Nimmer, nimmer stand ich still,
Aber immer bliebs verborgen,
   Was ich suche, was ich will.

Berge lagen mir im Wege,
   Ströme hemmten meinen Fuss,
Über Schlünde baut ich Stege,
   Brücken durch den wilden Fluss.

Und zu eines Stroms Gestaden
   Kam ich, der nach Morgen floss,
Froh vertrauend seinem Faden
   Werf ich mich in seinen Schoss.

Hin zu einem grossen Meere
   Trieb mich seiner Wellen Spiel,
Vor mir liegts in weiter Leere,
  Näher bin ich nicht dem Ziel.

Ach kein Steg will dahin führen,
   Ach der Himmel über mir
Will die Erde nie berühren,
   Und das dort ist niemals hier.

Friedrich Schiller
1759–1805

 

Friedrich von Schiller
geboren 1759 in Marbach am Neckar, 
gestorben 1805 in Weimar.

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© 1998 Ruth Flückiger, Schreib- und Korrekturservice, Burgdorf
Letzte Bearbeitung 03.08.08