In der Poesie-Ecke von Burgdorfernet sind 1998 und 1999 erschienen:

Gedichte ab 2000    Poesie-Ecke    Zurück zur Homepage von Burgdorfernet


Crocus

April 1998

Manche Nacht

Wenn die Felder sich verdunkeln,
fühl ich, wird mein Auge heller;
schon versucht ein Stern zu funkeln,
und die Grillen wispern schneller.

Jeder Laut wird bilderreicher,
das Gewohnte sonderbarer,
hinterm Wald der Himmel bleicher,
jeder Wipfel hebt sich klarer.

Und du merkst es nicht im Schreiten,
wie das Licht verhundertfältigt
sich entringt den Dunkelheiten.
Plötzlich stehst du überwältigt.

Richard Dehmel

Richard Dehmel
geboren 1863 in Wendisch-Hermsdorf/ Brandenburg, gestorben 1920 in Blankenese bei Hamburg.


Tulipa

Mai 1998

Im Frühling

Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel:
Die Wolke wird mein Flügel,
Ein Vogel fliegt mir voraus.
Ach, sag mir, all-einzige Liebe,
Wo du bleibst, dass ich bei dir bliebe!
Doch du und die Lüfte, ihr habt kein Haus.

Der Sonnenblume gleich steht mein
Gemüte offen,
Sehnend,
Sich dehnend
In Lieben und Hoffen.
Frühling, was bist zu gewillt?
Wann werd ich gestillt?

Die Wolke seh ich wandeln und den Fluss
Es dringt der Sonne goldner Kuss
Mir tief bis ins Geblüt hinein;
Die Augen, wunderbar berauschet,
Tun, als schliefen sie ein,
Nur noch das Ohr dem Ton der Biene lauschet.

Ich denke dies und denke das,
Ich sehne mich, und weiss nicht recht,
nach was;
Halb ist es Lust, halb ist es Klage;
Mein Herz, o sage,
Was webst du für Erinnerung
In golden grüner Zweige Dämmerung?
– Alte unnennbare Tage!

Eduard Mörike

Eduard Mörike,
geboren 1804 in Ludwigsburg,
war von 1834 bis 1843
Pfarrer in Cleversulzbach.
1844 zog er nach Mergentheim
und lehrte von 1851 bis 1866
Literatur am Stuttgarter Katharinen-Stift.
Gestorben 1875 in Stuttgart.
Werke: Gedichte, Novellen,
darunter «Mozart auf der
Reise nach Prag»,
Künstlerroman «Maler Nolten»,
Märchen «Das Stuttgarter Hutzelmännlein».


Teehybride

Juni 1998

Juni

Schön wie niemals sah ich jüngst die Erde.
Einer Insel gleich trieb sie im Winde.
Prangend trug sie durch den reinen Himmel
Ihrer Jugend wunderbaren Glanz.

Funkelnd lagen ihre blauen Seen,
Ihre Ströme zwischen Wiesenufern.
Rauschen ging durch ihre lichten Wälder,
Grosse Vögel folgten ihrem Flug.

Voll von jungen Tieren war die Erde.
Fohlen jagten auf den grellen Weiden,
Vögel reckten schreiend sich im Neste,
Gurrend rührte sich im Schilf die Brut.

Bei den roten Häusern im Holunder
Trieben Kinder lärmend ihre Kreisel.
Singend flochten sie auf gelben Wiesen
Ketten sich aus Halm und Löwenzahn.

Unaufhörlich neigten sich die grünen
Jungen Felder in des Windes Atem,
Drehten sich der Mühlen schwere Flügel,
Neigten sich die Segel auf dem Haff.

Unaufhörlich trieb die junge Erde
Durch das siebenfache Licht des Himmels.
Flüchtig nur wie einer Wolke Schatten
Lag auf ihrem Angesicht die Nacht.
(1935)

Marie Luise Kaschnitz

Marie Luise Kaschnitz,
eigentlich Freifrau Kaschnitz
von Weinberg, geb.
von Holzing-Berstett, Schriftstellerin,
geboren 1901 in Karlsruhe,
gestorben 1974 in Rom,
schrieb stark auto-
biographische Lyrik,
Erzählungen, Romane,
Hörspiele, Betrachtungen.

haber2.jpg (31250 Byte)
Tragopógon dúbius - Grosser Bocksbart

Juli 1998

Mittag

Am Waldessaume träumt die Föhre,
Am Himmel weisse Wölkchen nur;
Es ist so still, dass ich sie höre,
Die tiefe Stille der Natur.

Rings Sonnenschein auf Wies' und Wegen,
Die Wipfel stumm, kein Lüftchen wach,
Und doch, es klingt, als ström ein Regen
Leis tönend auf das Blätterdach.

Theodor Fontane

Theodor Fontane
geboren 1819 in Neuruppin, gestorben 1898 in Berlin, war zuerst Apotheker in Leipzig, seit 1842 in Berlin. 1852 ging er als Korrespondent nach London. Er begann seine schriftstellerische Tätigkeit als Balladendichter («John Maynard», «Die Brücke am Tay»). Seine grossen erzählerischen Werke entstanden erst im Alter: «Wanderungen durch die Mark Brandenburg», «Effi Briest», «Unterm Birnbaum», «Grete Minde» u.a.

wpe1.jpg (23455 Byte)
Siléne coronária - Kranz-Lichtnelke

August / September 1998

Reiselied

Wasser stürzt, uns zu verschlingen,
Rollt der Fels, uns zu erschlagen,
Kommen schon auf starken Schwingen
Vögel her, uns fortzutragen.

Aber unten liegt ein Land,
Früchte spiegelnd ohne Ende
In den alterslosen Seen.

Marmorstirn und Brunnenrand
Steigt aus blumigem Gelände,
Und die leichten Winde wehn.

Hugo von Hofmannsthal

Hugo von Hofmannsthal
geboren 1874 in Wien, gestorben 1929 in Rodaun bei Wien, studierte Jura und romanische Philologie. Er schrieb Texte zu den grossen Opern von Richard Strauss («Elektra», «Der Rosenkavalier», «Ariadne auf Naxos», «Arabella» etc.). Mysterienspiel «Jedermann», Komödien: «Der Schwierige», «Der Unbestechliche».

wpe2.jpg (43907 Byte)
Kaktusdahlie

Oktober 1998

To Autumn

Season of mists and mellow fruitfulness,
Close bosom-friend of the maturing sun;
Conspiring with him how to load and bless
With fruit the vines that round the thatch-eves run;
To bend with apples the moss’d cottage-trees,
And fill all fruit with ripeness to the core;
To swell the gourd, and plump the hazel shells
With a sweet kernel; to set budding more,
And still more, later flowers for the bees,
Until they think warm days will never cease,
For Summer has o’er-brimm’d their clammy cells.

Who hath not seen thee oft amid thy store?
Sometimes whoever seeks abroad may find
Thee sitting careless on a granary floor,
Thy hair soft-lifted by the winnowing wind;
Or on a half-reap’d furrow sound asleep,
Drows’d with the fume of poppies, while thy hook
Spares the next swath and all its twined flowers;

And sometimes like a gleaner thou dost keep
Steady thy laden head across a brook;
Or by a cyder-press, with patient look
Thou watchest the last oozings hours by hours.

Where are the songs of Spring? Ay, where are they?
Think not of them, thou hast thy music too,
While barred clouds bloom the soft-dying day,
And touch the stubble-plains with rosy hue;
Then in a wailful choir the small gnats mourn
Among the river sallows, borne aloft
Or sinking as the light wind lives or dies;
And full-grown lambs loud bleat from hilly bourn;
Hedge-crickets sing; and now with treble soft
The red-breast whist1es from a garden-croft;
And gathering swallows twitter in the skies.

 John Keats 

John Keats
geboren 1795 in London, gestorben 1821 in Rom.
Er war einer der bedeutendsten Lyriker der englischen
Romantik.

wpe2.jpg (23935 Byte)
Jonathan

November 1998

Die grosse Fracht

Die grosse Fracht des Sommers ist verladen,
das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.
Die grosse Fracht des Sommers ist verladen.

Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit.
und auf die Lippen der Galionsfiguren
tritt unverhüllt das Lächeln der Lemuren.
Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit.

Wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.
kommt aus dem Westen der Befehl zu sinken;
doch offnen Augs wirst du im Licht ertrinken,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.

 Ingeborg Bachmann

Ingeborg Bachmann
geboren 1926 in Klagenfurt, gestorben 1973 in Rom.
Gedichte, Erzählungen,
Hörspiele, Essays.

wpe2.jpg (17223 Byte)
Helleborus niger - Christrose

Dezember 1998

Ein Winterabend

Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
Lang die Abendglocke läutet,
Vielen ist der Tisch bereitet
Und das Haus ist wohlbestellt.

Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.

Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.

Georg Trakl

Georg Trakl
geboren 1887 in Salzburg,
gestorben 1914 in Krakau.
Lyrik, Prosa, Briefe.

wpe2.jpg (10793 Byte)
Iris sibirica

Januar 1999

Gebirgsrand

Denn was täte ich,
wenn die Jäger nicht wären, meine Träume,
die am Morgen
auf der Rückseite der Gebirge
niedersteigen, im Schatten.

Ilse Aichinger

Briefwechsel

Wenn die Post nachts käme
und der Mond
schöbe die Kränkungen
unter die Tür:
Sie erschienen wie Engel
in ihren weissen Gewändern
und stünden still im Flur.

Ilse Aichinger

Ilse Aichinger
Schriftstellerin, geboren 1921 in Wien. Verheiratet mit Günter Eich (gest. 1972).
Erzählungen, Romane, Hörspiele, Gedichte.

wpe5.jpg (51880 Byte)
Lärchen

Februar 1999

Menschliches Elende

Was sind wir Menschen doch? Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen,
Ein Ball des falschen Glücks, ein Irrlicht dieser Zeit,
Ein Schauplatz herber Angst, besetzt mit scharfem Leid,
Ein bald verschmelzter Schnee und abgebrannte Kerzen.

Dies Leben fleucht davon wie ein Geschwätz und Scherzen.
Die vor uns abgelegt des schwachen Leibes Kleid
Und in das Totenbuch der grossen Sterblichkeit
Längst eingeschrieben sind, sind uns aus Sinn und Herzen.

Gleich wie ein eitel Traum leicht aus der Acht hinfällt,
Und wie ein Strom verscheusst, den keine Macht aufhält,
So muss auch unser Nam, Lob, Ehr und Ruhm verschwinden.

Was itzun Atem holt, muss mit der Luft entfliehn,
Was nach uns kommen wird, wird uns ins Grab nachziehn.
Was sag ich? Wir vergehn, wie Rauch von starken Winden.

Andreas Gryphius

Andreas Gryphius
Dichter des Barocks, geb. 1616 in Glogau,
gestorben 1664. Seine Sonette und Oden berichten von der Nichtigkeit und Vergänglichkeit alles Irdischen.

Mvc-002s.jpg (48706 Byte)
Schneeglöckchen - Galanthus nivalis

 

März / April 1999

Hyperions Schicksalslied

Ihr wandelt droben im Licht
   Auf weichem Boden, selige Genien!
      Glänzende Götterlüfte
        Rühren euch leicht,
          Wie die Finger der Künstlerin
              Heilige Saiten.

Schicksallos, wie der schlafende
  Säugling, atmen die Himmlischen;
    Keusch bewahrt
      In bescheidener Knospe,
        Blühet ewig
          Ihnen der Geist,
            Und die seligen Augen
              Blicken in stiller
                Ewiger Klarheit.

Doch uns ist gegeben,
  Auf keiner Stätte zu ruhn,
    Es schwinden, es fallen
      Die leidenden Menschen
        Blindlings von einer
          Stunde zur andern,
             Wie Wasser von Klippe
               Zu Klippe geworfen,
                 Jahr lang ins Ungewisse 

                    hinab.

Friedrich Hölderlin, 1799

Friedrich Hölderlin
Dichter, geb. 1770 in Lauffen am Neckar,
gestorben 1843 in Tübingen.

Hölderlins Roman «Hyperion oder
Der Eremit in Griechenland»
erschien 1797/1799.

wpe1.jpg (13657 Byte)
Kakteen


April / Mai 1999

Psalm

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.

Gelobt seist du, Niemand.
Dir zulieb wollen
wir blühn.
Dir
entgegen.

 

Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die
Niemandsrose.

Mit
dem Griffel seelenhell,
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn.

Paul Celan
aus «Die Niemandsrose», 1963

 

Paul Celan
eigentlich Paul Anczel, Schriftsteller,
geb. 1920 in Czernowitz, lebte seit

1948 in Paris und lehrte an der
Ecole Normale Supérieure.
Gestorben 1970 in Paris.

wpe2.jpg (23167 Byte)
Pfingstrose - Paeonia

Mai / Juni 1999

Reineke Fuchs

In zwölf Gesängen
Aus dem ersten Gesang:

Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen;
es grünten und blühten
Feld und Wald; auf Hügeln und Höhn,

in Büschen und Hecken



Übten ein fröhliches Lied die neuermunterten Vögel;
Jede Wiese sprosste von Blumen in duftenden Gründen,
Festlich heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde.

Johann Wolfgang von Goethe

Johann Wolfgang von Goethe
geboren 28.8.1749
in Frankfurt am Main
gestorben 22.3.1832
in Weimar

wpe5.jpg (13492 Byte)
Mohnblume - Papaver

Juli 1999

Julikinder

Wir Kinder im Juli geboren
Lieben den Duft des weissen Jasmin,
Wir wandern an blühenden Gärten hin
Still und in schwere Träume verloren.

Unser Bruder ist der scharlachene Mohn,
Der brennt in flackernden roten Schauern
Im Ährenfeld und auf den heissen Mauern,
Dann treibt seine Blätter der Wind davon.


 

 

Wie eine Julinacht will unser Leben
Traumbeladen seinen Reigen vollenden,
Träumen und heissen Erntefesten ergeben,
Kränze von Ähren und rotem Mohn in den Händen.

Hermann Hesse

 

Hermann Hesse
geboren 2.7.1877 in Calw
gestorben 9.8.1962 in Montagnola bei Lugano. 
Er lebte seit 1919 im Tessin
und wurde 1923 Schweizer Bürger.
Romane, Erzählungen, Lyrik.


Malve - Alcea rosea

August / September 1999

Kophtisches Lied

Geh! gehorche meinen Winken,
Nutze deine jungen Tage,
Lerne zeitig klüger sein.
Auf des Glückes grosser Waage
Steht die Zunge selten ein.

 

Du musst steigen oder sinken,
Du musst herrschen und gewinnen,
Oder dienen und verlieren,
Leiden oder triumphieren,
Amboss oder Hammer sein.

Johann Wolfgang von Goethe

 

Johann Wolfgang von Goethe
geboren 28.8.1749 in Frankfurt am Main
gestorben 22.3.1832 in Weimar

250. Geburtstag am 28. August 1999

 


Sonnenblume - Helianthus annuus

Oktober / November 1999

Heutige Weltkunst

Anders sein und anders scheinen,
anders reden, anders meinen,
alles loben, alles tragen, 
allen heucheln, stets behagen,
allem Winde Segel geben,
Bös- und Guten dienstbar leben,
alles tun und alles tichten
bloss auf eignen Nutzen richten:
wer sich dessen will befleissen,
kann politisch heuer heissen.

Friedrich von Logau

 



 

Friedrich Freiherr von Logau
geboren 1604 in Niederschlesien
gestorben 1655 in Liegnitz

Er veröffentlichte umfangreiche Sammlungen von zeitsatirischen Epigrammen. 
1638: "Zwei hundert teutscher reimensprüche" 
1654: "Deutscher Sinn-Getichte drei Tausend"

 


November in Weimar


November / Dezember 1999

Chant d'automne

Bientôt nous plongerons dans les froides ténèbres;
Adieu, vive clarté de nos étés trop courts!
J'entends déjà tomber avec des chocs funèbres
Le bois retentissant sur le pavé des cours.

Tout l'hiver va rentrer dans mon être: colère,
Haine, frissons, horreur, labeur dur et forcé,
Et, comme le soleil dans son enfer polaire,
Mon cœur ne sera plus qu'un bloc rouge et glacé.

J'écoute en frémissant chaque bûche qui tombe;
L'échafaud qu'on bâtit n'a pas d'écho plus sourd.
Mon esprit est pareil à la tour qui succombe

Sous les coups de bélier infatigable et lourd.

Il me semble, bercé par ce choc monotone,
Qu'on cloue en grande hâte un cercueil quelque part.
Pour qui? - C'était hier l'été; voici l'automne!
Ce bruit mystérieux sonne comme un départ.

Aus: «Les fleurs du mal» von Charles Baudelaire

Charles Baudelaire
geboren 1821 in Paris
gestorben 1867 in Paris

Dichter, Kunstkritiker
Essayist. Hauptwerk ist sein Gedichtband «Les fleurs du mal»

 

Gedichte 2000 und 2001    Poesie-Ecke    Zurück zur Homepage von Burgdorfernet

 

© 1998 Ruth Flückiger, Schreib- und Korrekturservice, Burgdorf
Letzte Bearbeitung 03.08.08